- Oper: Das Musiktheater
- Oper: Das MusiktheaterSie muss einer der Höhepunkte der Karnevalssaison 1637 gewesen sein, die erste Opernvorstellung in Venedig, mit den Sängerstars einer bekannten Theatertruppe und einer verblüffenden Küstenlandschaft als Kulisse, so täuschend echt, dass die Zuschauer zweifelten, »ob sie wirklich in einem Theater seien« - so die Aussage des zwei Monate später gedruckten Textbuchs. Gezeigt wurde die Oper »L'Andromeda« des Komponisten Francesco Manelli. Damit war das erste öffentliche und auf Dauer angelegte Opernhaus eingeweiht: das Teatro di San Cassiano, so benannt nach der Kirchengemeinde, in der es lag. Es war den Betreibern, der Adelsfamilie Tron, ausdrücklich als teatro de musica genehmigt worden.Komponierte Rhetorik auf der BühneDie »Erfindung« der Oper knapp 40 Jahre vorher ging von dem Wunsch aus, die gesangsähnliche Rezitation der griechischen Tragödien mit modernen Mitteln nachzubilden. So entwickelte man die Monodie, die als Sologesang mit einfacher Begleitung eine Alternative zur bisher üblichen komplizierten Chorpolyphonie darstellte. Textverständlichkeit und zum ersten Mal eine halbwegs realistische musikalische Umsetzung eines Gesprächs auf der Bühne waren also die großen Neuerungen der ersten Oper »La Dafne« des Iacopo Peri, die 1598 in Florenz uraufgeführt wurde. Die radikale Einfachheit der Musik ließ eine Rezitation fast im Sprechtempo zu, erlaubte aber trotzdem noch eine musikalische Ausdeutung von Gefühlen der handelnden Figuren. Diese Technik entwickelte der wichtigste Opernkomponist dieser Zeit, Claudio Monteverdi, zu einem ausgefeilten dramaturgischen Repertoire: Die Musik konnte durch Harmoniewechsel, die Wahl der Instrumente oder typische melodische Figuren der Singstimme zwischen Trauer und Freude, Kampf und Schicksal fast alles darstellen. Das Zusammenwirken zwischen Regieanweisungen und Komposition wurde immer enger. In seiner Oper »Die Rückkehr des Odysseus in die Heimat«, die 1641 auch im Teatro di San Cassiano aufgeführt wurde, formulierte Monteverdi deshalb: »Hier erscheint das Schiff der Phäaken mit dem schlafenden Odysseus, und damit er nicht aufwacht, wird die folgende Sinfonia ganz sacht immer auf einer Saite angeschlagen.«Aus der Keimzelle der neuen Theatermusik, dem am Textduktus orientierten recitativo mit einfacher Akkordbegleitung, entwickelte sich bald die Kombination von Rezitativ und musikalisch anspruchsvollerer Arie, die auch Textwiederholungen und Verzierungen verwendet. Die Chöre wurden in den venezianischen Opern aus Kostengründen oft fortgelassen.Das neue Verlangen nach RealismusDie vertonten Stoffe entstammten zunächst der griechischen Mythologie, wurden aber der damaligen Mode entsprechend oft in einem idyllischen, zauberhaften Schäferambiente angesiedelt. Mit den öffentlichen Opernvorstellungen setzte jedoch eine neue Entwicklung ein. Für die Betreiber des Theaters, in diesem Fall die Adelsfamilie Tron, war die Oper durch Vermietung der Logen und Verkauf der Plätze im Parkett eine Einnahmequelle. Ihr Hauptanliegen war nicht die verschwenderische Selbstdarstellung der Fürstenhöfe, sondern Wirtschaftlichkeit. Das Interesse des Publikums musste immer wieder neu geweckt werden. Dies schlug sich in der Verkleinerung des Orchesters und einer realistischeren Handlung nieder. Gefragt waren Verwechslungskomödien, geistreiche Dialoge und das Nebeneinander von Helden und Dienerfiguren, eine Konstellation, die den Standesunterschied von Logen- und Parkettpublikum widerspiegelte. Anklang fanden auch historische Stoffe mit verblüffenden Szenen wie zum Beispiel Seeschlachten, außerdem stellte man das komische Element stärker heraus. Immer wieder waren es Handlungen, die auf dem Meer spielen, mit denen sich die Seemacht Venedig in ihren Opernhäusern feierte.Im Jahr 1657 übertrugen die Besitzer des San Cassiano die künstlerische Organisation und kaufmännische Verwaltung des Theaters dem Advokaten Marco Faustini. Damit war der Typus des barocken Theaterunternehmers geschaffen, der aus den Einnahmen des Kartenverkaufs ein möglichst attraktives Theatererlebnis kalkulierte und zu diesem Zweck Textdichter, Komponisten, Maschinenbauer, Kulissenmaler, Sänger und Instrumentalisten beschäftigte. Im Venedig des 17. Jahrhunderts entstanden so die Grundzüge der Bühnenberufe, die es heute noch gibt.Die Aufteilung des Zuschauerraums spiegelte die Hierarchie der Gesellschaft wider. Das Theater hatte 1637 wahrscheinlich schon die später üblichen fünf übereinander liegenden Reihen von je etwa 30 Logen, das heißt kleinen separaten Zuschauerräumen. Sie waren im Halbkreis um das Parkett herum angeordnet und erstreckten sich von einem Bühnenrand zum anderen. Reiche Kaufleute, Adlige und Inhaber politischer Ämter mieteten diese Logen für die knapp sechsmonatige Spielzeit vom 26. Dezember bis Fastnachtsdienstag, von Himmelfahrt bis zum 15. Juni und vom 1. September bis zum 30. November - das Halten einer solchen Loge wurde bald zum Statussymbol. Preiswert waren dagegen die Plätze im Parkett, die pro Abend an das »gemeine Volk« verkauft wurden. Erst diese Subvention der einfachen Plätze zulasten der Logen öffnete die Oper der ganzen Gesellschaft. Der regelmäßige Opernbesuch wurde für viele möglich, und durch Beifall oder Pfiffe entstand ein allgemeines Meinungsbild, das der Betreiber zu berücksichtigen hatte.Diese neue Öffentlichkeit begründete die wichtige gesellschaftliche Funktion der Oper. Opernaufführungen waren nicht mehr nur prunkvolle Privatangelegenheiten der Fürstenhöfe, sie boten vielmehr einem gemischten, aber anspruchsvollen Publikum die Gelegenheit zur Unterhaltung und damit auch dem Bürgertum, der staatstragenden Schicht der Republik, die Möglichkeit zur künstlerischen Selbstdarstellung. Denn nur wenn die Belange dieses Standes, die accidenti verissimi, thematisiert wurden, war man bereit, dafür zu zahlen. Die Geschichten von Göttern und Helden wandelten sich nach und nach zum bloßen äußeren Rahmen für das zwischen Komik und Tragik schillernde venezianische Intrigendrama.Das zeigte sich nicht nur im Repertoire. Als wirtschaftlicher Faktor erwies sich auch eine anspruchsvolle Bühnentechnik. Um den Hunger nach sensationellen Effekten zu stillen, griffen die konkurrierenden Theaterbetreiber auf schon vorher vereinzelt angewandte Illusionstechniken zurück und entwickelten diese weiter: Der Hauptvorhang wurde erfunden und ein Rahmen trennte Publikum und Sänger, wodurch die bis heute verbreitete »Guckkastenbühne« entstand. Um größere räumliche Tiefe vorzutäuschen, lief das Bühnenbild nach hinten perspektivisch zu, schräg gestellte seitlich verschiebbare Kulissen verstärkten diesen Eindruck und schufen eine Auftrittsmöglichkeit von der Seite her. Außerdem gab es Hebewerke für schwebende Wolken, fliegende Götter oder Ungeheuer. Ein Orchestergraben sorgte für akustische Verschmelzung der Instrumente mit den Sängerstimmen und vervollkommnete gleichzeitig die Illusion, da das Orchester unsichtbar wurde. Als kulturelles Zentrum stellte Venedig die Rahmenbedingungen sicher, unter denen ältere bühnentechnische Erfindungen zusammengeführt, mit neuen kombiniert und weiterentwickelt wurden. Bühnenbildner wie der berühmte Giacomo Torelli gingen aus der venezianischen Theaterlandschaft hervor und wirkten stilbildend für ganz Europa.Der Erfolg der ersten Spielzeiten im Teatro di San Cassiano führte schon zwei Jahre später zur Eröffnung des Theaters der Heiligen Johannes und Paul (Giovanni e Paolo), bis zum Jahrhundertende folgten mindestens zwölf weitere. Gleichzeitig hatte sich die Oper an italienischen und deutschen Fürstenhöfen endgültig etabliert. Privatunternehmerische und höfische Aufführungen beeinflussten sich gegenseitig, und viele Fürsten fanden schließlich Gefallen daran, ein großes Publikum zu beeindrucken. Der Erfolg dieser neuen Theaterform strahlte auf die Musikzentren Wien und München, später auch Paris, London und Hamburg aus. Der Siegeszug der italienischen Oper hatte begonnen.Dr. Tilman Schlömp
Universal-Lexikon. 2012.